Die Rennstrecke als Versuchslabor für KMU 4.0

Autor / Redakteur: Marco Schmid* / Sebastian Gerstl |

Technologieorientierte KMUs (kleine und mittelständische Unternehmen) haben oft Mühe, mit Megatrends und Entwicklungen wie Internet of Things, Cloud Computing und Machine Learning mitzuhalten. Wie kann das gelingen? Dieser Beitrag zeigt praktische Beispiele und mögliche, mitunter überraschende Lösungen.

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Visionär denken, mutig anpacken, operativ umsetzen und so Innovationen à la Silicon Valley wahr werden lassen, so wie den Traum, die Strecke zwischen London nach Rom und zurück mit nur 1 Liter Benzin zu schaffen [1].
Visionär denken, mutig anpacken, operativ umsetzen und so Innovationen à la Silicon Valley wahr werden lassen, so wie den Traum, die Strecke zwischen London nach Rom und zurück mit nur 1 Liter Benzin zu schaffen [1].
(Bild: Schmid Elektronik AG)

Die hier vorgestellten Lösungen entstanden in den letzten drei Jahren im Rahmen eines Ökorennens (Shell Eco Marathon, [1]), bei dem Green Engineering, Spitzentechnologie und internationales Teamwork zentrale Rollen spielen. Der Clou ist eine Art „Zeitmaschine“ und Lernplattform: Strategieperioden von üblicherweise drei Jahren schrumpfen auf sechs Monate und ein Geschäftsjahr oder ein Projektzyklus spielt sich in nur einer Woche ab. Die Rennen sind technologiegetrieben und im Mittelpunkt steht der Mensch mit seinen Emotionen.

Was Wile E. Coyote mit Transformation zu tun hat

Ein als „Segelschiff-Effekt“ bekanntes Phänomen sagt, dass besonders diejenigen Firmen mit schmerzhaften Wettbewerbsproblemen konfrontiert werden, die sich einer technologischen Evolution verschließen oder sie ignorieren. Warum unnötigen Aufwand und Energie in die Weiterentwicklung investieren, wenn es doch gut funktioniert und ein ROI nicht abschätzbar ist? Beispiele dazu sind etwa Nokia und Kodak.

Das Problem dieser „Aussitzer“: Sie sehen den eigenen Rückstand erst, wenn es zu spät ist. Ähnlich wie Wile E. Coyote stehen sie über dem Abgrund und werden sich gerade bewusst, dass etwas ganz schiefläuft. Sie wissen aber nicht, was und warum.

Dann gibt es etablierte Traditionsfirmen, die das Problem erkannt haben und volle Kraft voraus in Richtung Innovation marschieren. Ihre über die Jahre gewachsenen Organisationsstrukturen, die Spezialisierung der Mitarbeiter und eine bestehende, treue Kundschaft können sich dann als regelrechte Bremsklötze entpuppen. Besonders in der Industrie gelten die Gesetzmäßigkeiten des „Conway’s Law“. Dies verhindert Innovation, kann eine Firma regelrecht lähmen oder sogar zerreißen und man spricht in diesem Zusammenhang auch vom „Innovators Dilemma“.

All diese Probleme und Herausforderungen haben Startups nicht. Sie leben heute den KMU’s und sogar Konzernen vor, wie sich agil und disruptiv neue Märkte erschließen lassen, was nicht selten zum Wegbrechen bestehender Märkte führt. Die Stärke eines Konzerns ist gerade bei Veränderungen nicht unbedingt ein Vorteil. Wie war nochmal der geniale Spruch des vom Faultier genervten Säbelzahntigers in Ice Age, was die Haltung großer Unternehmen gegenüber Startups zeigt? „Du stehst entschieden zu weit am Anfang der Nahrungskette, um hier so das Maul aufzureißen!“. Die Frage ist also weniger, ob und warum transformieren, sondern wann. Denn es braucht vor allem eines: Zeit!

Vom Motor und Cockpit aufs Tablet

Die Veränderungen bei Schmid Elektronik hat ihren Ursprung ähnlich wie bei anderen europäischen KMU’s beim „Mini-Urknall“ 2009. Die Umsätze stagnierten und brachen sogar weg, der Preisdruck stieg und nichts war mehr wie vorher. Jeder schien seinen eigenen Ausweg aus der Situation zu suchen.

Schmid visierte mit Geoffrey A. Moores „Crossing the Chasm-Theorie“ einen Nischenmarkt an und nutzte Gartners Hype-Cycle-Methode, sich auf zukunftsgerichtete Technologien wie Cloud-Computing, IoT oder Predictive Maintenance vorzubereiten. Die dazu nötige Organisation fehlte noch. Also fusionierten wir ein Ingenieurbüro für Embedded-Systeme mit einem Produktionsbetrieb für Industrieelektronik. So schufen wir mit Schmid Elektronik einen Lösungsanbieter, der einem zukunftsgerichteten Nischenmarkt Engineering- und Produktions-Services sowie eine digitale Plattform bieten konnte.

Ende 2015 dann der alles verändernde Telefonanruf: „Wir planen im Shell-Eco-Marathon, einem Ökorennen, ein neues Show-Element, welches die Zuschauer emotional aufladen und von ihren Sitzen reißen soll. Die Rennfahrzeuge sollen mit einem Telemetrie-System ausgerüstet werden (Bild 2). Es soll ihren Energieverbrauch erfassen und diese und weitere Informationen, zusammen mit GPS-Daten live übers IoT in eine Cloud schicken.

Bild 2: Ein Telemetriesystem verbindet sich mit dem Cockpit und dem Antriebssystem von Rennfahrzeugen und schickt Betriebsdaten zusammen mit GPS-Information ans IOT.
Bild 2: Ein Telemetriesystem verbindet sich mit dem Cockpit und dem Antriebssystem von Rennfahrzeugen und schickt Betriebsdaten zusammen mit GPS-Information ans IOT.
(Bild: Schmid Elektronik AG)

Von da sollen sie auf eine Kinoleinwand und in die Smartphones der Besucher gelangen und per Broadcast in sozialen Medien ein Weltpublikum erreichen. Man habe recherchiert und Schmid verfüge offenbar über eine Technologieplattform, mit der sich komplexe Probleme, wie diese hier, in Rekordzeit realisieren lassen. Es bleiben nämlich nur noch acht Wochen Zeit!“. Wow...

Ausgetretene Pfade verlassen und Grenzen verschieben

Die Neugier war sofort geweckt und die Technologie reizte uns. Die schiere Komplexität und der Liefertermin machten aber Angst. Knowhow in Embedded-Hard- und -software hatten wir. Entwicklungs- wie auch Produktionsservices unter einem Dach sicherte schnelle Entscheidungswege. IoT-Technologie war von der Theorie her bekannt, aber die praktische Erfahrung fehlte. Und was Cloud Computing angeht, hatten wir gerade die ersten Schritte hinter uns. Es galt also, dazu zu lernen, und zwar pronto!

Bild 3: Schmid hat sein in den letzten 20 Jahren gewonnenes Knowhow in einer Plattform bestehend aus grafisch programmierbarer Embedded-Hardware, Funktionsmodulen für IoT und Predictive Maintenance sowie Softwarekomponenten standardisiert.
Bild 3: Schmid hat sein in den letzten 20 Jahren gewonnenes Knowhow in einer Plattform bestehend aus grafisch programmierbarer Embedded-Hardware, Funktionsmodulen für IoT und Predictive Maintenance sowie Softwarekomponenten standardisiert.
(Bild: Schmid Elektronik AG)

Wir erlebten vor 10 Jahren ebenfalls bei einem Energieprojekt eine ähnliche Situation, haben damals mutig Grenzen verschoben und ausgetretene Pfade verlassen. Das wiederum katapultierte Schmid Elektronik in Folge in einem Nischenmarkt nach vorne [2] (Bild 3) und entpuppte sich nun als Türöffner.

Wir erfuhren, dass in diesen Rennen drei Energiekategorien an die Startlinie gehen: klassische Verbrennungsmotoren, wasserstoffbetriebene Fahrzeuge und Elektromobile. Die Besten schaffen die Strecke von London nach Rom und zurück mit nur einem Liter Benzin! Eine solche Idee und Bewegung kann man nicht anders als unterstützen. Also sagten wir trotz den unmöglich erscheinenden Projekteckdaten zu, nach Sir Richard Bransons Motto: Screw it, let’s do it [3].

Erst viel später stellte sich heraus, dass Schmid Elektronik - ohne sich dessen bewusst zu sein - in den folgenden drei Jahren eine Transformation durchlief. Als Unternehmer habe ich daraus gelernt, dass es scheinbar drei Wege gibt, sich als Firma zu transformieren. Erstens, als letzten Ausweg - dann stehen wir aber meistens schon mit dem Rücken zur Wand und die Aussicht auf Erfolg ist vermutlich mager wie bei Wile E. Coyote. Zweitens, weil wir es wollen – das kann an fehlender Disziplin, Ressourcen (10.000 Stundenregel) oder am „Innovators Dilemma“ scheitern. Drittens, zusammen mit einem technologiegetriebenen, verbindlichen Großprojekt in einer innovativen Community. Das braucht Mut, aber mit einem kompetenten und engagierten Team und Herzblut kann man Risiken dieser Art durchaus wagen.

Vom Versuchslabor in den Geschäftsalltag

Schmid lieferte nach diesen acht Wochen den Telemetrie-System-Prototypen und begann damit eine Odyssee, die bis heute andauert. War es im Jahr 2016 noch ein Projektgeschäft, gingen wir im Jahr 2017 beim Geschäftsmodell neue Wege. Ein mittlerweile sechsköpfiges Team bietet dem Kunden vor Ort einen rundum TAAS (Technology As A Service), angefangen bei der Distribution und Installation der Telemetrie über die technische Inspektion der Fahrzeuge und Überwachen des Rennens bis zum Sammeln und wissenschaftlichen Aufbereiten der Renndaten (Data Science).

Dieses Team reiste im ersten Halbjahr für jeweils sieben Tage – so lange dauern die einzelnen Rennen – nacheinander nach Singapur, Kalifornien und London. Mit der Zeit fielen uns Gemeinsamkeiten zwischen diesen Rennen und unseren Geschäfts- und Projektrhythmen auf. Jede Rennwoche (Geschäftsjahr) startet mit einem Budget und klaren Zielen und jeden Abend (Monat) finden Reviews statt. Die Spannung steigt gegen Ende der Woche (Geschäftjahr), bis sie sich im Finale am Wochenende (Jahresende) entlädt und die Zuschauer begeistert dem Gewinner zujubeln.

Anschließend lernen wir aus den Fehlern und treten Wochen später noch besser organisiert das nächste Rennen an. Sobald im Juli die Saison (Strategieperiode) vorbei ist, werden in einem Herbstworkshop Vision und Mission strategisch hinterfragt und für die nächste Rennsaison angepasst. Was lag also näher, als das Knowhow von der Rennstrecke in den Geschäfts- und Projektalltag zu bringen? Wie löst man etwa Probleme zwischen unterschiedlichen Kulturen und Charakteren? Wie können Jung und Alt optimal voneinander profitieren? Wie holt man Leute ab, die aufgrund hoher Komplexität überfordert sind? Wie geht man im Team mit steigendem Druck um, vor allem dann, wenn die Abende lang werden, jeder erschöpft und gereizt ist und sich so Fehler einschleichen?

So wurde der Shell-Eco-Marathon Jahr für Jahr zum Versuchslabor für neue Technologien, unkonventionelle Methoden, effizientere Abläufe und Managementsysteme, alternative Führungsmodelle und Entwickeln einer Helferkultur. Sobald eine Idee reif war und das geschah dank der „Zeitmaschine“ im Handumdrehen, spannten wir den Bogen vom Rennen in unseren Alltag. Schon nach der ersten Saison beschäftigten wir uns mit „stiller“ Holokratie und eliminierten zuhause die Rollen CEO, Geschäftsleiter, Betriebsleiter und Abteilungsleiter. Das flachte unnötige Hierarchie ab und schaffte kurze Entscheidungswege: der Vogelschwarm war geboren. Ein siebenköpfiges Lead-Team führt nun nicht nach Rang, sondern Rolle.

Kultur verspeist Strategie zum Frühstück

Ein Teil jeder Firmenkultur ist die Art und Weise, wie sie mit Fehlern, Konflikten und Wettbewerb umgeht. Am Shell Eco Marathon gehören diese zur Tagesordnung, weil Neuland betreten wird, Technologien und Abläufe naturgemäß komplex sind und die Müdigkeit gegen Ende der Woche zunimmt. Auch stelle man sich die kulturellen Unterschiede zwischen einem amerikanischen, europäischen und asiatischen Rennteam vor. In diesem emotionsgeladenen Schmelztiegel will jeder das gleiche, nämlich Rennen gewinnen. Gleichzeitig hilft man sich gegenseitig, weil alle das gleiche höhere Ziel verfolgen, nämlich machbare Lösungen zum schonenden Umgang mit unseren Energieressourcen zu finden.

Dieser Green-Engineering-Kick und das Verbinden von Menschen sind der wahre Spirit des Shell Eco Marathon. In dieser Community treffen wir auf inspirierende Querdenker und Visionäre, die einen aus festgefahrenen Denkmustern befreien können und Inspirationen zu Firmenkultur 2018+ geben. Sir Richard Bransons „Finding my Virginity“ [3] macht derzeit die Runde und ist jedem wärmstens empfohlen, dem Leadership am Herzen liegt und der seine Mitarbeiter an erster Stelle sieht.

Tom Peters [4] „The Excellence Dividend“ ist ebenfalls sehr beliebt. Vision und Mission sind Tom jedoch weniger wichtig als konkrete Topleistung im Alltag nach dem Motto: „Vision without Execution is a day Dream“. In [5] gibt der Schöpfer von „Dilbert“, Scott Adams, einen genial einfachen Ratschlag, wie MitarbeiterInnen von innen her zu wirklichem Empowerment kommen.

Bild 4: Firmen, die infolge von Besitzerwechsel oder Fusionen ihre DNA verloren haben, können sie mit der „Golden Circle“-Methode (links) finden. Aus agilen, aber auch fragilen Startups werden zunehmend gut organisierte, stabile Firmen, die aber Probleme bei Veränderung zeigen. Warum nicht das Beste aus beiden Welten verbinden?
Bild 4: Firmen, die infolge von Besitzerwechsel oder Fusionen ihre DNA verloren haben, können sie mit der „Golden Circle“-Methode (links) finden. Aus agilen, aber auch fragilen Startups werden zunehmend gut organisierte, stabile Firmen, die aber Probleme bei Veränderung zeigen. Warum nicht das Beste aus beiden Welten verbinden?
(Bild: Schmid Elektronik AG)

Und schliesslich wächst die Zahl jener, die die Spur von Simon Sineks „Find your Why – The golden Circle“ [6] aufnehmen (Bild 4). Seine Methode hilft Firmen, ihre DNA und ihren „Biss“ wieder zu finden. Es geht ums Eingemachte. Wer sind wir als Firma? Wofür stehen wir ein? Warum tun wir das, was wir tun? Vision, Mission und Leitbild werden plötzlich konkret und sehr lebendig.

Disruption à la Silicon Valley: Wenn die Techniker das Sagen haben

Der Shell Eco Marathon führte uns im April 2018 ins kalifornische Sonoma und damit in die Nähe des Silicon Valley. Wir bereiteten uns mit [7] gemeinsam auf einen Trip durchs Valley vor, wollten seinen Spirit verstehen und kamen auf folgende Schlüsse.

1. Vieles entstand dank der Fähigkeit ihrer Bewohner, Gelegenheiten beim Schopf zu packen.
2. Einiges ist sicher ihrer unbändigen Neugier und hohen Risikobereitschaft zu verdanken, nach dem Motto: probieren wir’s einfach mal aus und schauen dann, was passiert.
3. Die Unternehmer im Valley haben ein messerscharfes Erfolgsrezept: Tue, was du liebst und tue es gut und mit Leidenschaft, dann kommt der Erfolg wie von selbst.

Man scheint das Querdenken eines Künstlers mit der Dreistigkeit eines Rebellen zu vereinen. Dazu kommt eine gesunde Portion Mut und die Fähigkeit, das „Unmögliche“ zu träumen (Thinking Big) gepaart mit enormem, rohem Fachwissen. Im Silicon Valley haben nicht die Manager und Kaufleute, sondern die Techniker das Sagen. Man fängt als kleines Startup in der Garage mit einer genialen Idee an, die einen traditionellen Markt auf den Kopf stellen kann. Dann wird entworfen, programmiert, angegriffen und verdrängt. Das Geld kommt oft von sogenannten „Business Angels“, die sich früh in diese Startups einkaufen und auf deren Erfolg spekulieren. Wichtig ist allen eine offene und unkomplizierte Kommunikation. Dazu gehören auch Fachsimpeln und „liquid Networking“ mit Kollegen der Konkurrenz. Man interessiert sich hauptsächlich für Technik und weniger um (Firmen-) Politik.

Was heißt das für uns Europäer?

Kopieren sollten wir weder das Valley noch seine Bewohner. Aber warum nicht das Erfolgsrezept einzelner Firmen etwas genauer anschauen? Wie sorgen sie für Innovation, wie dringen sie in Märkte ein? Was könnten wir Europäer wiederentdecken, was wir vielleicht verloren haben? Wie leidenschaftlich und hungrig sind wir (noch)? Wie schlank ist unsere Bürokratie? Wie wäre es, mit „Googlestunden“ gezielt die Sägen schärfen? Warum nicht eine kleine Scheibe des Silicon Valley Spirits abschneiden und „erfrischend anders“ werden?

„Unmöglich, das geht doch nur in den USA!“, sagst du vielleicht. Nicht unbedingt, denn vergleicht man das Silicon Valley mit Europa, gibt es durchaus Ähnlichkeiten. Wir hatten schon immer einen Nährboden für Erfindertum, Pioniergeist und Ingenieurskunst und genießen weltweit ein hohes Ansehen. Europäische Erfolge am Shell-Eco-Marathon belegen das. Der Rekord bei den Verbrennungsmotoren wird nämlich von einem Französischen, derjenige bei den Wasserstoff-Fahrzeugen von einem Schweizer Team gehalten. Damit ist die Strecke von London nach Rom und zurück mit nur einem Liter Benzin zu schaffen. Ein Deutsches Team schaffte außerhalb der Marathonregeln sogar 11.000 km mit 1 Liter. Und es ist weder ein amerikanisches noch asiatisches, sondern ein dänisches Team, welches die noch junge, neue Kategorie des autonomen Fahrens anführt.

Software macht es vor: Veränderung und Stabilität in Einklang bringen

Vom beflügelnden Silicon Valley Spirit zurück im Rennalltag hat sich das Team von Schmid gut überlegt, wie viel Struktur, Organisation und Qualitätssicherung es im Rennalltag zulässt. Dass es so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich sein soll, kommt daher, dass in unserer Firma Nutzen und Wirkung der ISO 9001 zunehmend hinterfragt wird.

Die Ideologie des agilen Manifests bringt uns heute bei vielen Problemstellungen weiter als ein statisches Konstrukt aus den 90er Jahren. In Tat und Wahrheit fühlten wir uns im ersten Jahr 2016 als Rennteam wieder zurückversetzt in die unbeschwerte Zeit des energiegeladenen Startups: Alles ist neu, alles ist möglich, jeder hat eine neue Rolle und oft herrscht Chaos. Ein Jahr später erkannten wir nicht zuletzt an den Doppelspurigkeiten, die bei einem international aufgestellten Team zwangsläufig entstehen, dass uns klare Rollen, Verantwortlichkeiten, Abläufe und Verfahren helfen könnten, den von Veränderungen geprägten Alltag mit Stabilität in Einklang zu bringen.

Kotters Geschichte [8] (Bild 4) – er hat die Transformation von Startups in professionelle Organisationen sehr genau studiert – hat uns geholfen, das Beste aus beiden Welten zu verbinden. In bekannter Manier nutzen wir gegenwärtig die Rennen wiederum als Versuchslabor, um zuhause das QM schöpferisch zu zerstören und ein neues Managementsystem auf der grünen Wiese aufzubauen. Dann wird gezügelt und entsorgt. Bürokratie soll einer Plattform weichen, die einfach verständlich ist, uns im Alltag aktiv unterstützt und wo jeder sein „Zuhause“ findet, mit klaren Aufgaben, Verantwortungen und Kompetenzen.

Lessons Learned von der Rennstrecke

Folgende sieben Tipps von der Rennstrecke sind einfach im Geschäftsalltag umsetzbar.

1. Wenn du eine innovative Idee hast, frage nicht immer um Erlaubnis, sondern tue es einfach und bitte später, falls es schiefgehen sollte, um Vergebung. Schaffe dazu zeitliche und physische Spielräume und «Seeing-Tools» (Bret Victor)
2. „Plane das Tauchen, tauche den Plan“ klingt zuerst logisch, klappt aber nicht immer, wie Mike Tyson verrät: „jeder hat irgendeinen Plan, bis er ins Gesicht geschlagen wird“. Kombiniere also Antizipieren mit Agilität.
3. Wenn du unbekannte Wege gehst, erhoffe das Beste, sei aber auf das Schlimmste vorbereitet. Risikokarten mit Eintrittswahrscheinlichkeit und Auswirkung eignen sich dazu sehr gut. Ein Plan B in der Tasche ist Gold wert.
4. Wechsle deine Schuhe niemals, wenn du an der Startlinie eines Marathons stehst: Änderungen in heißen Projektendphasen werden zum Boomerang.
5. Schmiede das Eisen, solange es heiß ist, suche bei Fehlschlägen schnell und wertfrei sofort den „rauchenden Colt“, der das ausgelöst hat und lerne daraus.
6. Und last but not least: Steuere aktiv die Erwartungshaltung deines Kunden: verspreche wenig und liefere mehr (underpromise – overdeliver).
7. Lerne – verlerne – lerne neu. Wirf auch mal Erfahrung über Bord und sei offen für Neues.

Abhärten für Distruption: Verlasse ab und zu deine Komfortzone

An den Rennen treten insgesamt bis 200 Rennteams an, unterteilt in drei verschiedenen Energiekategorien und zwei Fahrzeugklassen. Damit ergeben sich 200 unterschiedliche Rennfahrzeuge, die auf Fahrtüchtigkeit und Sicherheit zu prüfen sind. Jedes Fahrzeug erhält ein Telemetrie-System, welches sich mit Antrieb und Cockpit vernetzt und während der Rennen live Daten in die Cloud liefert. Die Umgebung im Motorraum ist rauh und die Telemetrie-Elektronik trifft auf hohe Temperaturen, starke Vibrationen, Feuchtigkeit und harsche elektromagnetische Felder. Troubleshooting gehört zur Tagesordnung. Das ist eine enorme Komplexität, Fehler sind vorprogrammiert und Risiken begegnen uns Tag für Tag.

Wenn am letzten Renntag die Besten in Formel-1-Manier gegeneinander antreten, erlebt das sechsköpfige Team von Schmid Elektronik ein Wechselbad der Gefühle. Da ist der Adrenalinkick nach dem Start, dem „Point-of-no-Return“ und der sehnliche Wunsch, dass das Telemetrie-System über die kommenden 10 Runden lückenlos korrekte Daten liefert. Nicht nur die vielen anwesenden Zuschauer verfolgen das Rennen, sondern die ganze Welt schaut zu – Social Media sei Dank.

In dieser äußerst kritischen, 15 Minuten dauernden Endphase darf einfach kein Fehler auftreten. Das Problem liegt, wie meistens, im Detail, angefangen bei kalten Lötstellen oder fehlerhaften Crimpkontakten über gequetschte Kabel und EMV-Problemen bis zu Übertragungsfehlern bei 4G oder WIFI infolge mangelnder Netzabdeckung. Erleichterung und Enthusiasmus nach einem erfolgreichen Rennen sind unbeschreiblich. Bittere Enttäuschung und Frust nach einem Fehlschlag ebenfalls und es gilt dann als Team, gemeinsam mit der Niederlage umzugehen, daraus zu lernen und abzuhaken.

Schmid verlässt in dieser Rennwoche bewusst ausgetretene Pfade und öffnet sich für Unbekanntes und Neues. Alte Rollen werden abgelegt und man organisiert sich wie im agilen Startup, welches unvorhergesehene Probleme unkompliziert und zügig lösen kann. Der Personalverantwortliche übergibt den Rennteams die Telemetrie-Systeme, erklärt ihnen die Funktionsweise, wie sie auf das WIKI kommen und per QR-Codes zu den Renndaten gelangen. Der Inhaber wird zum Inspektionstechniker, der später in den Rennwagen die Telemetrie prüft und sich dabei die Hände schmutzig macht. Dieses Rollenspiel holt jeden aus der Komfortzone und härtet ab. Ein perfektes Training für den disruptiven Geschäftsalltag.

Literaturhinweise

[1] M. Schmid: Von London nach Rom und zurück - mit nur 1 Liter Benzin, Keynote auf dem Embedded Software Engineering Kongress 2017

[2] M. Schmid: Entfesselte Kreativität; elektronik informationen 2/2018, S8

[3] Richard Branson, Finding my Virginity, Penguin Verlag, 2017

[4] Tom Peters, The Excellence Dividend, Penguin Verlag, 2018

[5] Scott Adams, Dilbert Creator Scott Adams reveals the simple formula that will double your odds of success, Forbes, 2013

[6] Simon Sinek, Find your Why, Penguin Verlag, 2017

[7] Christoph Keese, Silicon Valley, was aus dem mächtigsten Tal auf uns zukommt, Penguin Verlag, 2016

[8] David Kotter, that’s not how we do it here, Penguin Verlag, 2016

(Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors dem Tagungsband Embedded Software Engineering Kongress 2018 entnommen.)

Marco Schmid, Geschäftsführer der Schmid Elektronik AG in Münchwilen, Schweiz
Marco Schmid, Geschäftsführer der Schmid Elektronik AG in Münchwilen, Schweiz
(Bild: Schmid Elektronik AG)

Autor

* Marco Schmid ist Systemingenieur und hat täglich mit Embedded Systemen zu tun. Sein Hauptinteresse gilt Embedded-Software. Dank vieler Projekte hat er Erfahrungen in Cyber Physical Systems, Internet of Things, Condition Monitoring, Predictive Maintenance und Cloud Computing. Seine Hauptmotivation ist es, diese mit Branchenkollegen zu teilen, etwa in Form von Vorträgen oder technischen Fachartikeln.

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