Im Zeichen der Disruption – Was Deutschlands Embedded-Software-Community jetzt tun muss

Autor Martina Hafner

Die Tech-Welt steht am Beginn eines neuen Zeitalters. Für die Softwareentwickler bedeutet dies nicht nur, das Wettrennen um neue Technologien aufzunehmen. Der gesamte digitale Umbruch im Job muss aktiv gestaltet werden. „Wir sind jetzt agil reicht nicht aus. Wie der Change wirklich klappen kann, erläutern Experten auf dem ESE Kongress.

Anbieter zum Thema

(Bild: Martin Dee)

Die Softwarebranche befindet sich im Würgegriff der Digitalisierung: Immer schneller müssen Entwickler und technisches Management neue Technologien wie Künstliche Intelligenz und Machine Learning verstehen, in ihrer Bedeutung einordnen und einsetzen. Gleichzeitig müssen sie der hohen Komplexität und den umfassenden Anforderungen heutiger Softwareprojekte Herr werden.

50 Jahre ist es inzwischen her, dass die Konzepte des Software Engineering auf einer von dem NATO Science Committee (SCOM) gesponserten Tagung in Garmisch-Partenkirchen geboren wurden, um Wege aus der Softwarekrise zu finden. Diese Ideen können auch heute helfen. Da sich die Rahmenbedingungen und technologischen Herausforderungen aber erheblich verändert haben, tun neue Ansätze in der Arbeitsorganisation, beim Vorgehen sowie beim Werkzeugeinsatz Not.

Bildergalerie

Die zusätzliche Schwierigkeit ist: Das Arbeitsumfeld ändert sich auch für Kopfarbeiter gewaltig. Denn der Umbruch durch die Digitalisierung macht vor Hochqualifizierten nicht halt. Daher wird es 2018 auf Deutschlands größtem Kongress für Embedded Software Engineering (Sindelfingen, 3. bis 7. Dezember) neben technischen Trends und Handwerkszeug des Software Engineering auch um nachhaltige Arbeits- und Innovationskonzepte für die Embedded-Software-Branche gehen. Mehrere Sprecher werden sich in ihren Vorträgen mit Themen wie KI, Empowerment sowie Startup-Kultur und Innovation auseinandersetzen.

Ohne Empowerment funktionieren agile Strukturen nicht

Bieten agile Organisationen die Chance für eine neue Humanisierung? Diese Frage untersucht Thomas Lühr vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF). Der junge Forscher beschäftigt sich seit einigen Jahren im Schwerpunkt mit Arbeit und Unsicherheit von hochqualifizierten Beschäftigten sowie mit dem Thema Karriere in modernen Unternehmen.

„In den Unternehmen setzt sich zunehmend die agile Organisation als neue Leitorientierung durch. Damit entstehen neue Chancen, um den Menschen in den Mittelpunkt der digitalen Arbeitswelt zu stellen“, so Lühr. „Zentraler Schlüssel dafür ist das Empowerment der Beschäftigten. Ohne Empowerment funktioniert Agilität nicht und drohen neue Belastungen in der Arbeit“, glaubt Lühr. Empowerment steht dabei für vom Management initiierte Maßnahmen, die die Autonomie und Mitbestimmungsmöglichkeiten von Mitarbeitern in ihrem Job erweitern. Lührs Vortrag gibt Einblicke in aktuelle Forschungsergebnisse aus dem BMBF-Projekt Empowerment in der digitalen Arbeitswelt.

Wie organisieren sich Teams ohne Führungshierarchien?

Empowerment geht mit Hierarchieabbau, Selbstbefähigung und Selbstbestimmung der Mitarbeiter einher. Abgesehen vom Humanisierungsgedanken tun Unternehmen auch deshalb gut daran, ihre Mitarbeiter mit mehr Eigenverantwortung auszustatten, weil das Marktumfeld in der Hightech-Branche immer mehr Spezialistentum und interdisziplinäre Zusammenarbeit benötigt. Ebenso benötigen Unternehmen die Fähigkeit, schnell und unkonventionell auf unerwartete Marktereignisse reagieren zu können. Aber wie bitte organisieren sich Menschen, wenn starre Führungsrollen und klare Verantwortlichkeiten ausbleiben? Ideen dazu formuliert Lars Vollmer, Unternehmer, Vortragsredner und Autor des Buches Wie sich Menschen organisieren, wenn ihnen keiner sagt, was sie tun sollen.

„Bitte verwechseln Sie das nicht mit Führungslosigkeit. Und erst recht nicht mit Anarchie", so Vollmer in seinem Buch. „In den Organisationen, die weitgehend ohne Managementtheater erfolgreich funktionieren, ist es keineswegs so, dass jeder nur auf den anderen wartet oder einfach tut, was er gerade so will. Führung ist allgegenwärtig. Es ist nur so, dass die Führungsaufgabe nicht institutionalisiert ist.“

Wie das konkret funktionieren kann, erklärt Lars Vollmer in seiner Keynote am
5. Dezember. Anhand von Beispiele aus Gesellschaft und Wirtschaft macht er sich Gedanken über eben jene Entwicklung, die Menschen vollführen, wenn ihnen keine Führungskraft Zeit-, Ziel- oder sonstige Pläne vor die Nase setzt. „Wenn Menschen etwas gemeinsam leisten wollen und ihnen keiner sagt, was sie tun sollen, so bilden sich spontan Gemeinschaften, also kleine Gruppen, Teams, Trupps, Task Forces. Ich nenne diese Leistungsgrüppchen Mannschaften“, so Vollmer. „In solchen Gruppen ist die Verantwortung nicht verschwunden, sondern sie ist kollektiviert. Jeder hat sie“. In diesen Teams sei die Aufmerksamkeit, das alles gut läuft, dann bei allen sehr hoch.

So funktioniert Querdenken im Großkonzern

Einen möglichen Weg, wie sich kurze, agile Innovationszyklen erfolgreich in etablierten Strukturen integrieren lassen, zeigt Peter Guse, Gründer und Geschäftsführer der grow platform von Bosch, in seinem Vortrag Querdenken im Großkonzern. „Politik und Technologie treiben Veränderung in Gesellschaft und Industrie, die hohe Unsicherheit mit sich bringen und Mangel an Daten und Fakten, um immer analytische Entscheidungen treffen zu können. Der einzige Weg vorwärts ist dann Ausprobieren, Experimentieren. Es liegt in der Natur des Experiments, daß es scheitern kann. Dabei das Risiko zu begrenzen und aus dem Ergebnis zu lernen sind die Herausforderungen in einem Großunternehmen, das sonst auf Fehlervermeidung optimiert ist", so Guse.

Vor diesem Hintergrund wurde bei Bosch 2013 die Start-up-Platform grow gegründet. Die Idee war es, eine lernende Organisation mit hohen Freiheitsgraden innerhalb des Unternehmens zu schaffen. „Wir wählen Teams mit Ideen aus, die wir finanzieren, unterstützen und denen wir ermöglichen, schnell am Markt ihr Geschäftsmodell zu testen. In den letzten vier Jahren ist es damit mehrfach gelungen, neue Märkte zu erkunden, mit positivem und negativem Ergebnis", erklärt Guse weiter.

Als einer der wesentlichen technologischen Treiber der nächsten Jahre gilt unter vielen Experte die Künstliche Intelligenz. USA investiert massiv in die Technologie. Und China will bis 2030 die führende Nation werden. In ihrem „Next Generation Artificial Intelligence Development Plan“ (AI Plan) beschreibt die Regierung der Volksrepublik konkret ihre Ambitionen: Bis zum Jahr 2020 soll der technologische Rückstand zum Westen aufgeholt sein; bis 2025 soll die chinesische KI-Industrie jährlich 60 Milliarden Dollar umsetzen und bis 2030 will China die Welt im Bereich der KI dominieren.

"AI Made in Europe – Chancen und Perspektiven Künstlicher Intelligenz" ist das Thema der Keynote von Holger H. Hoos am Donnerstag. Er ist Professor für Machine Learning und ein weltweit anerkannter Experte für Künstliche Intelligenz.
"AI Made in Europe – Chancen und Perspektiven Künstlicher Intelligenz" ist das Thema der Keynote von Holger H. Hoos am Donnerstag. Er ist Professor für Machine Learning und ein weltweit anerkannter Experte für Künstliche Intelligenz.
(Bild: Martin Dee)

Künstliche Intelligenz: Europa bündelt seine Excellence

Und Europa? „Europa muss nicht nur seine Forschung und Entwicklung im Bereich der Künstlichen Intelligenz verstärken, sondern auch seine Kräfte bündeln“, ist Holger H. Hoos überzeugt, Professor für Machine Learning, und einer von drei Keynote-Rednern auf dem ESE Kongress. Er ist einer der Initiatoren von CLAIRE, einer schnell wachsenden Basisinitiative europäischer Spitzenforscher und Stakeholder der künstlichen Intelligenz mit aktuell mehr als 2100 Unterstützern aus 29 Nationen. „Europa hat viele exzellente Forscher und Forschungsgruppen in der Künstlichen Intelligenz. Aber es ist es wichtig, dass wir auf den Stärken Europas aufbauen: Verantwortungsvolle Forschung und Innovation, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht“ konstatiert Hoos. „Wir brauchen eine KI, die die menschliche Intelligenz ergänzt und nicht ersetzt.“

Konkret geht es bei CLAIRE um den Aufbau eines gut koordinierten Netzwerks von Kompetenzzentren, die strategisch in ganz Europa angesiedelt sind, sowie eine neue, zentrale Einrichtung mit moderner Infrastruktur, ähnlich dem CERN. Bereits im Juni diesen Jahres hatten 600 führende Experten für Künstliche Intelligenz ein Schreiben veröffentlicht, in dem sie die europäischen und nationalen Entscheider auffordern, ihre Unterstützung für Forschungsexzellenz und Innovation in der Künstlichen Intelligenz drastisch zu erhöhen.

Die Forscher fordern die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz, die die menschliche Intelligenz ergänzt, anstatt sie zu ersetzen. „KI hilft uns, unsere Grenzen und Vorurteile zu überwinden. Dies ist ein Schlüsselaspekt des menschzentrierten Ansatzes von Künstlicher Intelligenz, die von der CLAIRE-Initiative gefordert wird“, so Hoos. Ein Schwerpunkt seiner Keynote am 6. Dezember wird auf der Rolle moderner Verfahren aus dem maschinellen Lernen, sowie auf der Interaktion zwischen KI und Softwaretechnik liegen.

(ID:45487777)