Modellierung Beschleunigt oder bremst MBSE die Entwicklung von 500 kW Bremsleistung?
Kern des Beitrags ist ein Erfahrungsbericht über den Einsatz von modellbasiertem Systems Engineering (MBSE) in einem Kundenprojekt. Ziel des Projekts war die Entwicklung und Bereitstellung eines Bremsfahrzeugs mit einer Bremsleistung von 500 Kilowatt.
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Bereits zum Projektstart wurde kontrovers diskutiert, ob MBSE eingesetzt werden soll, welche Erwartungen an das Modell gestellt werden und welche Ausprägung der Einsatz der Methode haben soll und darf. Diese Fragen wurden besonders durch das straffe Projekt-Budget geprägt. Somit war klar, dass ein Einsatz der Methodik möglichst pragmatisch und effektiv ablaufen muss. Der Beitrag geht auf die frühe Projektphase, die Umsetzung von MBSE sowie auf ein Resümee des Ganzen ein.
„Wir hätten gerne ein Fahrzeug, das unsere Zugmaschine mit bis zu 500 Kilowatt gezielt abbremsen kann. Ach ja, bis Ende des Jahres bitte!“ Diese Aufgabenstellung ist lösbar. Mit und ohne den Einsatz von MBSE. Was ist besser? Pauschal kann das sicher nicht beantwortet werden. Der gemeine Systems Engineer spricht sich gemäß seiner inneren Überzeugung natürlich für den Einsatz von MBSE aus. Der gemeine Gesamtverantwortliche kann dies unter Umständen jedoch anders sehen.
Als Entwicklungsdienstleister und Systemintegrator ist die enders Ingenieure GmbH bei der Entwicklung mechatronischer Gesamtsysteme auf eine eng verzahnte und gut abgestimmte interdisziplinäre Arbeitsweise angewiesen. MBSE stellt hierfür prinzipiell genau das richtige Werkzeug dar. Da das behandelte Projekt jedoch ein knapp kalkuliertes Budget aufwies, war der Einsatz der Methodik gut abzuwägen und entsprechend zu planen.
Bremsfahrzeug – Vorstellung des Projekts
Die enders Ingenieure GmbH erhielt von einem führenden Landtechnik OEM die Beauftragung, ein spezielles Bremsfahrzeug zu entwickeln und voll funktionsfähig bereitzustellen. Von der Beauftragung bis zur Auslieferung war ein Zeitraum von knapp einem Jahr geplant.
Die Kern-Funktion des Fahrzeugs ist es, an eine Zugmaschine angehängt zu werden und über diese direkte mechanische Kopplung eine vorgegebene Bremslast aufzubringen. Dabei sollen Spitzen von bis zu 500 kW Bremslast realisiert werden. Zur Anwendung kommt dieses Fahrzeug bei messtechnischen Untersuchungen an der Zugmaschine.
Im Folgenden wird kurz das technische Grundkonzept umrissen. Das Bremsfahrzeug (BFZ) besteht im Wesentlichen aus einem Zwei-Achs Anhänger, der über eine spezielle Deichsel an die Zugmaschine angehängt wird. Die Bremskraft wird durch eine Wirbelstrombremse erzeugt und über ein Getriebe direkt an die beiden Achsen des Fahrgestells gekoppelt.
Aufgrund der hohen Leistungen von bis zu 500 kW erfolgt die Wärmeabfuhr von der Wirbelstrombremse über eine Wasserkühlung. Alle elektrischen Verbraucher werden durch einen mobilen Dieselgenerator versorgt. Die Steuerung des BFZ erfolgt über ein Bedieninterface welches in die Kabine der Zugmaschine installiert wird und eine direkte Verbindung zur eigentlichen BFZ Steuerung hat, welche direkt im Anhänger sitzt. (siehe Bild 1 in der Bildergalerie)
MBSE – Auswahl und Festlegung der Vorgehensweise
Die Grundidee für das Projekt bestand im Einsatz einer Systemmodellierung mit SysML zur Unterstützung der Konzeptphase. Diese Idee galt es jedoch zuallererst mit den Projektbeteiligten und den Gesamtverantwortlichen abzustimmen. Genauer gesagt galt es zunächst etwas Überzeugungsarbeit zu leisten. (siehe Bild 2 in der Bildergalerie)
Dies gestaltete sich nicht zuletzt deswegen herausfordernd, da viele der Beteiligten eine sehr geringe oder kaum vorhandene Kenntnis über die Vorgehensweise des MBSE und im Speziellen über die Modellierungssprache SysML hatten. Diese Ausgangsbasis stellte einen wichtigen Einflussfaktor auf die Ausprägung der ausgewählten Methodik dar.
So war von vorn herein klar, dass alles sehr pragmatisch und einfach nachzuvollziehen sein musste. Es sollte nicht den faden Beigeschmack von Zusatzaufwand haben oder eine umständliche Einarbeitung voraussetzen. Des Weiteren war zu beachten, dass die Ausarbeitung der Modellierung mit geringen Aufwänden umzusetzen sein musste, da das Projektbudget insgesamt sehr straff ausfiel.
Die angewandte MBSE-Methodik ist gemäß der Rahmenbedingungen des Projekts skaliert und beinhaltet im Prinzip fünf Schritte (Bild 2). Die einzelnen Punkte sind als eine Abfolge dargestellt. Die tatsächliche Umsetzung erfolgt allerdings vielmehr iterativ und inkrementell. Eine Modellierung der Struktur kann etwa Auswirkungen auf das Verhalten haben oder die genauere Betrachtung von Anwendungsfällen Rückwirkungen auf die Requirements.
MBSE in Action – Einsatz untern realen Projektbedingungen
Butter bei die Fische – wie wurde die prinzipiell dargestellte MBSE Methodik im Projekt eingesetzt? Welchen Nutzen stiftete dies und welche Komplikationen brachte es mit sich?
1. Ziele und Umfang definieren
Das erste und wichtigste Ziel für den Einsatz von MBSE war und ist die strukturierte Unterstützung der Konzeptphase. Gerade bei einem solchen interdisziplinären, thematisch und technisch sehr breit gefassten System kann hier ein deutlicher Vorteil erarbeitet werden. Es gilt die Requirements zu konsolidieren und potentielle Fehler im Design frühzeitig zu vermeiden. Diese Aussage ist geradezu schon ein Allgemeinplatz. Bei straff kalkulierten und hart terminierten Projekten ist es umso essentieller sich wirklich daran zu halten.
Ein weiteres Ziel an das Modell und Argument für den Einsatz von MBSE war, dass die festgelegten Funktionen und Modellinhalte als konzeptionelle Basis für die Software Implementierung der mobilen Steuerung dienen sollten. Die grundlegende Architektur der Software sollte direkt im Systemmodell abgebildet und enthalten sein.
Als drittes und letztes Ziel wurde die Dokumentation der Systemarchitektur benannt. Dies deckt sich mit der Kern-Idee des MBSE alle Informationen redundanzfrei in einem Modell zu verwalten.
Ein abgeleitetes Ziel an das Modell und die Anwendung von MBSE mit SysML war es, ein möglichst einfach nachvollziehbares Modell zu erstellen. Es sollten möglichst wenige Sprachelemente verwendet werden, um die Einlernphase für Neulinge gering zu halten und das Modell selbst nicht kompliziert werden zu lassen.
Bild 3 zeigt auf welche Diagramm-Arten der SysML verzichtet wurde und welche zum Einsatz kamen. Bei den eingesetzten Diagrammarten wurde zudem darauf geachtet, ein weitestgehend reduziertes Set an Elementen zu verwenden. Beispielsweise wurde auf die Verwendung von Ports verzichtet. (siehe Bild 3 in der Bildergalerie)
2. Requirements Engineering
Das Anforderungsmanagement startete basierend auf dem gemeinsam definierten Lastenheft. Daraus wurden modellbasiert (Bild 4) weitere Anforderungen an des System abgeleitet. Die Anforderungen wurden im Modell dabei in die Kategorien funktionale und nicht-funktionale Anforderungen sowie Bedingungen kategorisiert.
Basierend auf den Kernfunktionen und den korrelierenden Requirements wurde auch das prinzipielle Test- und Abnahme Vorgehen im Modell definiert. Auf diese Weise wurden Aspekte der Verifikation und Validierung des Gesamtsystems beachtet. (Bild 4)
3. Systemkontext
Ein wichtiger Schritt, der bereits in einer frühen Phase der Modellierung stattfindet, ist die Darstellung des Systemkontextes. Hierbei wird das System als Blackbox in seinem relevanten angrenzenden Kontext dargestellt. Gleichzeitig werden hier die ersten prinzipiellen Schnittstellen definiert. (Bild 5)
4. Systemstruktur
Die Strukturmodellierung stellt den größten Umfang vom Gesamtmodell dar. Hier wird die Struktur des Fahrzeugs auf die Subkomponenten und Aggregate herunter gebrochen. Auf diese Weise wird das Gesamtsystem hierarchisch dargestellt. Es wird auf die mechanischen und elektrischen Elemente eingegangen sowie die Interaktion dieser.
Bild 6 zeigt beispielsweise mit einer Übersicht des Kühlkreislaufs einen Ausschnitt des Strukturmodells. Es zeigt, welche Komponenten Teil des Kühlsystems sind und wie diese zusammenhängen. Da die Kühlung eine systemübergreifende Funktion ist, gewinnt eine solche Übersichtsdarstellung an Signifikanz.
Des Weiteren werden im Strukturmodell die Grundzüge der Architektur der Software für die Steuerung und Regelung des BFZ beschrieben. (Bild 6)
5. Systemverhalten
Die Beschreibung des Systemverhaltens schränkt sich auf zwei Betrachtungen ein. Zum einen enthält das Modell eine Beschreibung der Kernfunktionen des Systems anhand von Anwendungsfalldiagrammen. Hier werden beispielsweise die Bedienung, das Fehler-Handling oder die Diagnose am Fahrzeug grundlegend dargestellt. Eine genauere Betrachtung bestimmter Funktionen erfolgt mit Zustandsdiagrammen. Hierzu gehören beispielsweise die System- bzw. Betriebszustände. (Bild 7)
Rückblick – Wie ist es gelaufen?
In Schulnoten: Gut. Zwar nicht sehr gut, aber besser als befriedigend allemal. Soviel kann als Resümee auf jeden Fall gesagt werden.
Was sind die Gründe, weshalb der Einsatz von MBSE im Projekt rückblickend nicht als sehr gut zu sehen ist. Hier gibt es ein paar Punkte, die nennenswert sind und die für zukünftige Aufgabenstellungen als Ansatzpunkte zur Optimierung genutzt werden können.
Die Mehrzahl der Entwicklungsprojekte läuft bei der enders Ingenieure GmbH (noch) ohne den Einsatz von MBSE ab. Die etablierten und gelebten Arbeitsprozesse sind hinsichtlich der Verwaltung und Bereitstellung von Projekt-Informationen dokumenten-orientiert. So sind Stücklisten von Bauteilen und Komponenten eine saubere Materialbeschaffung und die Durchführung von Montagen unumgänglich.
Durch die gleichzeitige Verwendung des Modells und der Stücklisten kommt es aber zwangsläufig zu einer Daten-Redundanz, da Elemente und Einzelpunkte der Stückliste zum Teil Elementen im Modell entsprechen und vice versa. Diese Tatsache stellt einen Widerspruch zum prinzipiellen MBSE Ansatz dar. (Bild 8)
Ein weiterer Kritikpunkt, der allerdings eher die Kommunikation und Vermarktung betrifft, ist die Tatsache, dass SysML Diagramme für eine absolute High-Level Darstellungs¬weise etwas zu abstrakt sind. In der Kommunikation mit dem Endkunden oder Projekt-Fremden ist es erfahrungsgemäß wichtig mit einer Bild-Ebene einzusteigen und zu arbeiten.
D.h., tatsächliche grafische Darstellungen von Objekten zu verwenden und nicht nur abstrakte Kästchen. Damit wird eine Misch-Modellierung notwendig, bei der solche High-Level Übersichtsdiagramme mittels nicht-formaler Modellierung dargestellt werden (siehe Bild 8).
Zu den positiven Aspekten des MBSE Einsatzes gehört u. a. der positive Einfluss auf die Durchführung der Konzeptphase. Anhand des Modells konnten alle Informationen disziplin-übergreifend schnell gesammelt und konsolidiert werden. Das Modell an sich wurde in regelmäßigen Besprechungen als Kommunikations-Grundlage verwendet und stellte damit eine solide Basis für den Austausch dar. Das Projektteam konnte auf diese Weise organisch verzahnt werden.
Ein weiterer Vorteil des Modells war die enthaltene Software Architektur. Da diese bereits in einer sehr frühen Projektphase ausgearbeitet und festgehalten wurde, konnte die Implementierung der Steuerungs-Software ohne größere konzeptionelle Vorarbeiten starten. Der Fortschritt und Stand der Implementierung konnte anhand des Modells stets transparent nachvollzogen werden.
Abschließend wird noch auf das Verhältnis von Aufwand und Nutzen eingegangen und die Fragestellung, ob sich der Einsatz von MBSE in knapp kalkulierten Projekten lohnt. Für Entscheidungsträger sind dies die wichtigen Fragestellungen. Gleichzeitig lassen sie sich aber nicht ohne weiteres pauschal beantworten.
Basierend auf dem vorgestellten Projekt kann geschlussfolgert werden, dass sich der Einsatz gelohnt hat. Es konnte ein sauberes technisches Detailkonzept erarbeitet werden. Dabei ist es sehr wahrscheinlich, dass einige späte Fehler ausgeschlossen und vermieden werden konnten.
Das Verhältnis von Aufwand und Nutzen fiel positiv aus. Im Nachhinein ist es schwierig zu sagen, wieviel Aufwand allein dem Einsatz von MBSE zuzurechnen ist. Wenn es aber um die reine Arbeit am Modell geht, liegt man wohl im Bereich von einigen Wochen. In Anbetracht der Gesamtlaufzeit des Projekts ist diese Investition mehr als gerechtfertigt.
Die anfänglich noch reservierten Verantwortlichen sind durch den Projektfortschritt und die erzielten Ergebnisse zu wahren Verfechtern von MBSE geworden. Es wurde klar erkannt, dass der Nutzen höher als der Aufwand ist.
Das Resultat: MBSE beschleunigt
Zum Abschluss darf die Auflösung der Fragestellung aus dem Titel des Beitrags natürlich nicht fehlen: MBSE beschleunigt die Entwicklung von 500 kW Bremsleistung!
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* Thomas Rogalski ist bei der enders Ingenieure GmbH in Ergolding als Projektleiter und Leiter des Geschäftsfelds Embedded Systeme und Steuerungstechnik tätig. Parallel dazu lehrt er als Dozent an der HAW Landshut im Studiengang Master of Systems Engineering Methodiken der Systemmodellierung.
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